So sing out loud!

„Kill switch engaged“ prangte in verschnörkelten Buchstaben auf dem T-Shirt meines Vordermannes. Er unterhielt sich angeregt mit einigen anderen Metallheads und spielte ab und an auf seiner Luftgitarre, wozu die Anderen synchronisch headbangten. Für diejenigen, die mit der Materie Metal nicht so bewandert sind: Beim Headbanging schleudert man seinen Kopf (ob lange oder kurze Haare ist egal, wobei bei langen Haaren der gewünschte Effekt des Schleuderns natürlich mehr zur Geltung kommt) in ekstatischer Bewegung zum Rhythmus nach vorne und nach ein paar Minuten gibt es einem ein Gefühl, als würden die Gehirnzellen durchgeschüttelt werden wie die körnige Füllung einer Marakas. Ich befand mich in einer bekannten Szenebar irgendwo in den Straßen von Mysore, die Bude war voll, die Leute angetrunken und in ihren Augen blitzte die pure Vorfreude auf das anstehende Ereignis. Was ich damals erleben sollte, hätte ich beim besten Willen nicht von Indien erwartet. Es sollte eine andere Art von Kulturschock für mich werden. Aber wie mir auch beim Orientation Camp schon immer wieder eingetrichtert wurde: Es gibt beide Seiten, man sollte sich seine Single- Story von Indien ganz schnell aus dem Gedächtnis streichen.
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So kam es also, dass zwei Tage vorher eine Geldgeberin nach Kaliyuva Mane kam, um einigen Freundinnen (eventuell zukünftige Spenderinnen) die Schule zu zeigen.
Robin und ich kamen mit ihr ins Gespräch und als sie erfuhr, dass wir Deutsche sind, war sie hellauf begeistert und lud uns prompt zu sich nach Hause zum Essen ein.
Es stellte sich nämlich heraus, dass ihr Sohn im Jahr 2012, dem Weltuntergangsjahr der Maja, für ein Ingenieurstudium nach München zieht und dieser sehr daran interessiert wäre, ein paar Deutsche kennen zu lernen. Und da wir schon aus Erfahrung wussten, dass man in Indien besser keine Einladungen ablehnt, egal ob es sich um einen einfachen Chai handelt oder um eine Hochzeitseinladung (wäre eh bescheuert die abzulehnen!), fragten wir nach ihrer Nummer um sie bei unserem nächsten Mysore Aufenthalt kontaktieren zu können.
Eine Sache, die einem in Indien frühzeitig auffällt ist, dass man sehr schnell von Leuten zu sich nach Hause eingeladen wird, auch wenn man sich gerade erst vor 10 Minuten kennen gelernt hat. In Deutschland wäre das wohl eher eine Seltenheit.
So waren wir beispielsweise am 02.09. kurzfristig beim Schuldirektor der Mysore Public School zum Lunch eingeladen, nachdem wir ihn einen Tag vorher beim Ganesha-Festival kennengelernt hatten.
Es war ca. 14 Uhr und der 10.09. als wir von Mrs. Bhat und ihrem Sohn Nahusa an der Mysore Art Gallery mit dem Auto abgeholt wurden. Robin war gerade dabei den gesamten flüssigen Inhalt einer Football großen Kokosnuss durch einen Strohhalm in seinen Magen zu saugen und ich versuchte unter großem Gestikulieren dem Kokosnuss Verkäufer klar zumachen, dass ich gerne seinen gesamten Vorrat an Strohhalmen kaufen würde (Kunstunterricht, versteht sich), als hinter uns ein Auto hupte. Wer schon einmal in Indien war wusste, dass uns das Hupen recht wenig interessierte. Es gehört in Indien zum Autofahren wie bei uns das Nutella zum Frühstück und wird zu jeder passenden Gelegenheit praktiziert (ob beim Überholen, Abbiegen oder als Warnsignal). Wer in indischen Großstädten eine Minute lang kein Autogehupe hört, sollte sich fragen, ob entweder sein Trommelfell schon zu viel Lärm abbekommen hat oder er/sie eventuell eine Ohrdusche benötigt.
In die beigen Lebenssitze gedrückt und von der Klimaanlage fast erschlagen fuhren wir durch die Wohlstandsviertel Mysores vorbei an prunkvollen Regierungsgebäuden und Häusern, die alle aussahen wie kleine Eigentumspaläste. Es fiel einem schnell auf, dass man die Familie Bhat in die obere Mittelschicht einordnen konnte. Es sollte sich später herausstellen, dass sie der Kaste der Brahmanen angehören.
Wir bogen in eine Auffahrt ein und vor uns tat sich ein großer, weißer Gebäudekomplex auf. Diese Bauten, die von außen aussahen wie eine große Hotelanlage,
ergaben das erste Projekt von Luxusappartements in Mysore und stellten sozusagen eine neue Versuchsreihe dar.
Dementsprechend wohlhabend war die Einrichtung der 7. Zimmerwohnung und der Ausblick aus dem 10 Stock auf den 100 m2 Pool im Innenhof gab mir den Rest.
Danach ließ ich mich auf die Ledercouch nieder und genoss meinen Chai, den mir Mrs. Bhat vor die Nase hielt. Er erinnerte mich wieder daran, dass ich eigentlich in Indien war. Nachdem Mr. Bhat und der andere Sohn Nishant sich zu uns gesetzt hatten, stellte sich schnell heraus, dass dieser, wie auch Robin, ein fanatischer Metal-Hörer war und eh wir uns versahen waren wir auf ein Konzert eben dieser Art eingeladen, welches noch am selben Abend stattfinden sollte. Als wären wir nicht schon genug überrumpelt gewesen, erfuhren wir, dass Bangalore und Mysore, mit einigen hundert Mitgliedern, die Hochburgen der Metal-Szene in Südindien sind und alle paar Wochen kleine Konzerte stattfinden.
Die Frage ist, wie kommt es dazu, dass diese westliche Musik in Indien so einen Anklang findet? Die Antwort liegt nicht gerade auf der Hand, aber ist logisch. Es gibt zwei angesagte Musikrichtungen in Indien: Auf der einen Seite die indische Bollywood Musik, die von dem Großteil der Inder gehört wird und das traditionelle Indien widerspiegelt. Dann sind da die Wohlstandsinder, die nach dem westlichen Lebensstandard streben und versuchen sich so gut es geht an diesen anzugleichen. Dabei bleibt die Musik nicht ausgeschlossen und da man für Youtube und Co. Internet braucht, sind es hauptsächlich die reichen Inder, die es sich leisten könne westliche Musik zu hören. Warum allerdings Metal und nicht zum Beispiel Hip Hop oder Pop so angesagt sind, bleibt mir bis jetzt ein Rätsel.
Ich stand also in einer Bar voller Metalheads, trank zum ersten Mal indisches Bier, welches nicht wirklich mit meiner Vorstellung von indischem Bier konform war (Kingfisher stammt noch aus Kolonialzeiten) und erfreute mich dem Anblick hübscher Inderinnen, die in ungefähr gleicher Anzahl wie Männer vorzufinden waren und (ich traute meine Augen nicht!) genauso wie die Männer, Bier tranken und sogar rauchten! Was ich bis dahin als unumgängliches Taboo für Frauen in Indien gehalten hatte, traf mich nun wiedermal vollkommen unerwartet. Eine Frau die in der Öffentlichkeit trinkt und raucht wird von der indischen Gesellschaft sofort als Flittchen angesehen. So dachte ich es jedenfalls bis zu diesem Zeitpunkt. Nun wusste ich es besser und es erfreute mich zu sehen, dass es selbst in Indien, wo die Frauen durch kulturelle, wie auch gesellschaftliche Normen so sehr eingeschränkt sind, eine emanzipiertere Generation von Inderinnen gibt. Wobei man dabei wieder zwischen Städtern und Dörflern distinguieren muss.
Ich muss gerade unwillkürlich an eine Situation zurückdenken, die in Bezug auf diese Thematik zeigt, dass selbst Männer unter gesellschaftlichen Normen leiden müssen.
Als sich Robin, mein Projektgenosse, vor einigen Tagen mit einem Jungen (17 Jahre) aus unserem Projekt unterhielt, lobte dieser ihn aufgrund seiner schönen langen Haare: „In Germany you have got the freedom of hair“, waren seine Worte. Es stellte sich nämlich heraus, dass er durch den Druck der Eltern, der Schule und generell der Gesellschaft dazu gezwungen ist seine Haare zu schneiden “so wie es jeder Inder tut“.
Das nur mal als kleines Beispiel der ernüchternden Alltagsrealität.
Doch widmen wir uns wieder dem Schauspiel welches sich um mich herum abspielte.
Die Ironie, welche sich vor mir auftat ließ mich schmunzelt: Diejenigen Inder, die das Privileg genossen im Schein des Wohlstands zu leben, und das taten die meisten Inder in dieser Bar, da war ich mir sicher (schließlich sollte ich in den nächsten Monaten noch genügend Schattenseiten in Indien zu Gesicht bekommen), sympathisierten mit der dunklen Seite der Metal Musik. Sorry an alle Metal Fans für diese vorurteilhafte Umschreibung. Vielmehr möchte ich zu dem Abend gar nicht mehr an Worten von mit geben, außer, dass das Highlight des Konzertes für mich war, als eine Band anfing Song 2 von Blur zu spielen und der ganze Pulk an Metalheads (me included) voll drauf abging.
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Dieser Abend war wahrscheinlich eines der ungewohntesten Ereignisse die ein Indienreisender erleben konnte und er wird mir auf ewig im Gedächtnis bleiben.
Wir schliefen ein paar Stunden später mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen und mit der Vorfreude auf ein uns sehr bekanntes Frühstück am nächsten Morgen ein. Was es geben würde? Natürlich nichts anderes als Toast mit Marmelade, Sandwiches und gepressten Orangensaft!
Na wenn das mal nicht sagenhafte Träume wurden.
Shubha ratri!
1004 mal gelesen
Annegret (Gast) - 26. Nov, 14:52

Hallo,lieber Fynn,
heute dachte ich mir, musst doch mal gucken, ob Fynn wieder etwas "produziert" hat - und er hat. Es hat Spaß gemacht, Deine Schilderungen zu lesen, und die Eindrücke sind ja wirklich vielfältig. Die Fotos sind auch ganz toll. Mir scheint, dass es Dir gut geht, und das wünsche ich Dir auch. Gerade hat hier gerade der Castortransport nach G. LG passiert. Es ist viel los hier. Der "Winter" ist momentan ziemlich frühlingshaft. Na, das weißt Du vielleicht von Anderen. Wenn Dir vielleicht auch nicht vorweihnachtlich in Anbetracht Deiner Umgebung zumute ist, so wünsche ich Dir dennoch eine dementsprechend gute Zeit.
Alles Liebe und bleib munter
Anne

FSJ in Indien

Moin User, mein Name ist Fynn und ich habe diesen Blog eingerichtet, da ich ab dem 10.August ein freiwilliges soziales Jahr in Indien machen werde und auf diesem Weg meine Eindrücke und Erlebnisse mit Euch teilen möchte.

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