Sonntag, 5. Februar 2012

Bitte den Türbereich freihalten.

Die Landschaft Karnatakas fliegt am vergitterten Zugfenster vorbei und die warme Mittagsluft schlägt mir ins Gesicht. Ich sitze im Express Zug nach Bangalore. Es ist der 19. November 2011 und ca. 13:20 Uhr nach indischer Zeitrechnung. Dementsprechend müsste es in Deutschland ungefähr 8:50 Uhr sein. Obwohl die morgendliche Rushhour schon längst vorbei ist, lassen sich die freien Plätze im Zug an einer Hand abzählen.
Die Leute sitzen in die harten Ledersitze gepresst und an ihren Gesichtsausdrücken lässt sich erschließen, was vielen von ihnen durch den Kopf geht.
Ein kurzer Blick auf die Uhr. In 20 Minuten sollte der Zug nach dreistündiger Fahrt am Bahnhof in Bangalore einfahren.
Für eine Zugfahrt findet man ein für Indien recht angenehmes Klima vor.
Wir müssten ca. 26°C Außentemperatur haben, was für einen Winteranfang nicht hätte paradoxer sein können. Doch wenn man seit drei Monaten in Indien lebt, wundert einen das schon lange nicht mehr. Ich zähle 29 Ventilatoren an der Decke meines Abteils.
Ob diese im Hochsommer für genügend Erfrischung sorgen, bezweifle ich trotzdem.
Mittlerweile ziehen die kleinen, dicht gedrängten Vorstadthäuser von Bangalore an meinem Fenster vorbei. Es ist ein Gewirr aus Farben, nicht zu identifizierenden Gerüchen und tausenden Details, die auf meine Sinne eindreschen und mich kurz gefangen halten.
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Ab und zu fahren wir über einen Flusslauf hinweg und schlagartig steigt mir ein übler Gestank in die Nase. Das Wasser ist tiefgrau und der Müll häuft sich zu kleinen Inseln in der Strömung und am Uferrand.
Seitdem wir in die dicht bewohnten Gebiete eingefahren sind, hat man das Gefühl der Zug würde sich auf einem einzigen Müllhügel vorwärts bewegen. Zu beiden Seiten der Schienen findet sich alles wofür sich Mensch zu bequem war, um es bis zum nächsten Mülleimer aufzubewahren. Allerdings muss man auch sagen, dass man durch die simple Installation von kleinen Mülleimer im Zug die starke Belastung der Umwelt zumindest etwas mildern würde.
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Klamotten, Decken und Bettlaken in verschiedenen Farben hängen zum Trocknen zwischen den Häuserschluchten. Viele sehen nicht so aus, als würden sie gerade gewaschen worden sein. In kleinen Hinterhöfen, die gerade mal so groß sind, dass sie eine Parkfläche für vier VW Audi A2 bieten, spielen Kinder Kricket.
Ein großer, weißer Gebäudekomplex ragt wie eine Haifischflosse aus dem Häusermeer heraus. Modernes Wohnen, würde man das hier in Indien bezeichnen. In Deutschland heißen sie Plattenbauten. Das, was von außen wie schäbige und einfache Appartementwohnungen aussieht, verzeichnet eine überwiegend saubere und komfortable Innenausstattung. Eine Sache die man über Inder wissen muss: Ich habe in meiner Zeit in Indien die Erfahrung gemacht, dass die Inder sehr viel wert auf Privatbesitz geben. Kommt man in das Haus einer indischen Familie, egal ob dreistöckiges Einfamilienhaus oder 2- Zimmer Hütte, findet man das Innere meistens (wie überall gibt es Ausnahmen) aufgeräumt und geputzt vor. Was der Familie gehört wird mit Vorsicht und Obhut behandelt. Es kommt nicht selten vor, dass eine neue Anschaffung wie zum Beispiel ein neuer Scooter zu seiner Einweihung bepujaht wird. Das kann man einer Art Segnung gleichstellen. Die meisten Grundstücke mit Einfamilienhäusern in Mysore sind nach außen hin durch dicke Steinmauern eingegrenzt. Man macht von vornherein klar, was einem gehört. Und das hält man sauber. Einen Schritt vom Grundstück runter und der Müll landet im nächsten Straßengraben, der einem ja eh nicht gehört und deshalb muss man sich auch nicht darum scheren. Zwar gibt es in den großen Städten eine Art Müllabfuhr, allerdings kann die mit den Müllabfuhren die wir von Zuhause kennen noch lange nicht mithalten und meistens wird der Müll nur zu kleinen Häufchen zusammengefurcht und anschließend auf offener Straße verbrannt, ganz egal ob es sich um Plastik oder andere gesundheitsschädigende Stoffe handelt.
Ich werde durch ein leichtes Ruckeln an meinem linken Unterarm aus meinen Gedanken gerissen. Eine alte, von harter Arbeit geprägte Hand streckt sich mir bettelnd entgegen. Sie gehört zu einem Mann, den ich auf ende 60 schätze. Er bewegt sich auf dem Gesäß sitzend fort, da ihm beide Beine bis oberhalb der Kniescheiben fehlen. Er trägt eine verschmutzte, früher bestimmt mal sehr gut aussehende Anzugshose, die er so weit es geht nach oben hochgekrempelt hat und ein braunes Unterhemd, welches irgendwann mal weiß war. Seine abgemagerten Arme und Beinstummel sind durchzogen mit dicken Adersträngen, die erschließen, dass er früher mal relativ kräftig gewesen sein muss. Er hat eine für Inder sehr dunkle Haut. Vielleicht war er früher Feldarbeiter oder Bauarbeiter, welche die meiste Zeit unter freiem Himmel arbeiten.
Nun stellt sich einem wieder die Dilemma Frage, ob man einem Obdachlosen Almosen gibt oder, wie es einem von vielen Indern geraten wird, nicht tut, da viele von ihnen ihre Einnahmen der Obdachlosen Mafia übergeben müssen.
Ihm Endeffekt hat der Engel auf meiner Schulter gesiegt und ich krame ein paar Rupien aus der Tasche. Ohne ein Dankeswort zu sprechen robbt der alte Mann weiter. Ich schaue ihm noch ein Weile hinterher und bemerke, dass ich einer der drei Personen aus meinem Abteil bin, der ihm etwas gegeben hat. Ich erinnere mich an eine andere Fahrt mit der indischen Bahngesellschaft. Damals hat sich genau wie der Bettler ein Transsexueller seinen Weg durch die halb vollen Bahnabteile gebahnt. Er hatte genauso bei den Fahrgästen um Geld gebettelt, wenn auch auf seine eigene Art.
Kaum hatte er sich ein Opfer herausgeguckt, fing er an den Mann auf erniedrigende Art zu begrapschen. Er fummelte ihm im Gesicht rum, zog an seinen Ohren und kniff ihm in die Wangen. Es dauerte keine 10 Sekunden, da hatte der Transsexuelle 10 Rupien in der Hand und lief weiter, auf der Suche nach dem nächsten Geldgeber. Jetzt muss man erst einmal verstehen, warum sich die indischen Männer so etwas gefallen lassen.
In der indischen Gesellschaft sind Transsexuelle so ziemlich am untersten Punkt des Kastensystems positioniert. Sie haben also so gut wie nichts zu verlieren und da ihnen ihr Ruf sowieso voraus eilt, können sie sich auch dazu herablassen einem Fremden so zu beschämen. Viele Inder glauben, dass sie einen mit einem Fluch belegen, wenn man sich mit ihnen anlegt und ihnen kein Geld gibt. Da entledigt man sich lieber einfach 10 Rupien.
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Robin stupst mich von der Seite an und macht mich darauf aufmerksam, dass wir soeben im Bahnhof von Bangalore, der den Namen „Majestics“ trägt, eingefahren sind.
Auf dem Bahnsteig tummeln sich schon die nächsten Fahrgäste. Es ist ein durcheinander von zerlumpten Gestalten und schlipstragenden Business Leuten. Zwischendrin stapeln sich große, gut verschnürte Pakete, die von irgendwo aus der Welt kommen und ihre Reise nach Mysore fortsetzen. Kaum das Gepäck geschnappt und schon drängeln wir uns zum Ausgang. Ein entspannter Reisender, der wartet bis alle Hektik verflogen ist und als letzter den Zug verlassen will, wird in Indien wohl oder übel nie einen Zug verlassen können. Kaum dass dieser hält versuchen sich Leute durch die Eingänge in den Zug zu drängeln und schmeißen Gegenstände durch die Fenster in den Innenraum um sich Plätze zu reservieren. Und landet ihr Gegenstand auf einem Platz, kann man sicher sein, dass sie auch auf diesen bestehen. Es wird also gedrängelt und geschupst um nach draußen zu gelangen. Doch schließlich habe ich den Asphalt des Bahnsteiges unter meinen Füßen und wiedermal steigt mir beißender Gestank in die Nase.
Wenn ein Reisender in Indien auf eine Zugtoilette geht, so wird dass, was er dort hinterlässt, nicht wie in deutschen Zügen gesammelt und auf den nächsten Bahnhöfen entsorgt, sondern landet direkt, durch ein Rohr geleitet, auf den Gleisen.
Da auch bei einem wartenden Zug am Bahnhof viele Leute es sich nicht verkneifen können auf die Toilette zu gehen, kann man sich denken, wie die Gleise dementsprechend aussehen. Es ist ein Empfangsgeschenk für jede Ankömmling und während wir uns durch die Menschenmenge drängen erscheint der Teufel auf meiner rechten Schulter, pickt mir mit seinem Dreizack ins Ohr und lacht hinein: „Willkommen in Bangalore! Haha!“
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Moin User, mein Name ist Fynn und ich habe diesen Blog eingerichtet, da ich ab dem 10.August ein freiwilliges soziales Jahr in Indien machen werde und auf diesem Weg meine Eindrücke und Erlebnisse mit Euch teilen möchte.

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